26. April 2024 Die Masse lebt

Mindestlohn für Konzert- und Theaterbesuche, jetzt!

Überall nun 9-Euro-Tickets, -Abos, -Flatrates. Man springt, wo es nicht gerade nicht geht auf den Zug der 9-Euro-Tickets-Unterstützungs- oder Abfederungsmaßnahmen in Sachen öffentlicher Personen Nachverkehr auf. Es gibt jetzt Schnupper-Abos von Zeitungen für 9 Euro, meine Dissertation für 9 Euro. Da will „die“ Musikkultur nicht zurückstecken und wittert schon ein Geschäft. Das kostenlose Monatsmagazin für Konzert- und Opernbesucher „concerti“ plädiert im Duett mit dem Chef-Cellisten des Deutschen Musikrates für ein „9 Euro Kulturticket für Junges Publikum“.

Was steckt dahinter? Und warum ist, was so nett klingt, eine eher ignorante und widersinnige Idee, zudem alles andere als nachhaltig – nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern einer im Fallrohr zur Kulturversickerungsgrube.

Der Professor sagt:

Professor Christian Höppner, nebenbei Generalsekretär des Deutschen Musikrates und Präsident des Deutschen Tonkünstlerverbandes sowie Präsident des Deutschen Kulturrates, sagt über die Idee des 9-Euro-Kulturtickets in einer Pressemitteilung (meine Schnellkommentare in eckigen Klammern):

„Die Bühnen sind frei [der Mensch ist frei, die Gedanken sind frei, die Bühnen sind frei von was?], die Veranstaltungen laufen in dichter Reihenfolge [Veranstaltungsverdichtung allenthalben, läuft doch] und dem jungen Publikum [das ist das Publikum unter 35 Jahren, wie man an anderer Stelle lesen kann] sollte die Teilhabe an dieser Kulturellen Vielfalt [Herr Beethoven, Herr Mozart, Herr Wagner, Herr Händel] erleichtert werden [weil? – weil es zu viele Türsteher:innen gibt, die das verhindern?].

Ein zukunftsweisender Impuls, der deinem Namen trägt

Neben den bestehenden Angeboten für das junge Publikum setzt Concerti [das ist ein kostenloses Monatsmagazin für Konzert- und Opernbesucher und damit also für einen bestimmten engen Bereich des Musiklebens – Selbstbeschreibung: concerti.de ist Deutschlands Klassik-Seite – man fragt sich, was ist auf der anderen Seite] mit seinem Vorschlag eines ‚9 Euro-Kulturtickets‘ einen zukunftsweisenden Impuls für ein lebendiges Musikleben [war es bislang also ziemlich tot – oder gilt das für nur für Oper und Konzert?], der jetzt [also Jetzt oder nie, oder warum gerade jetzt?] wirken kann. Mit Unterstützung der Kulturpolitik [wie kann denn Kulturpolitik das unterstützen, wäre da nicht eine Finanzierung irgendwie besser?] wäre dieses Angebot ein weiterer Baustein [welche anderen gibt es denn schon?], die tiefgreifenden Folgen der Coronakrise [wir haben „Folgen“ eine Coronakrise, ist sie schon vorbei?] für das Musikleben abzumildern [und ich dachte, es ginge um einen „zukunftsweisenden Impuls“].“

Concerrrti!

Concerti als Ideengeberin formuliert es nicht so blumig in Anlage seiner Argumentation. Dort liest man:

„Nach dem Motto ‚Nächste Haltestelle: Konzert!‘ regt concerti ein monatliches ‚9 Euro-Kulturticket‘ an, mit dem ähnlich einer Flatrate freie Plätze von Besuchern unter 35 Jahren genutzt werden können. Im Unterschied zum Vorbild gebenden ‚9 Euro-Ticket‘ für Bus & Bahn ab 1. Juni 2022 verursachen junge Zuhörer keine logistischen Mehrkosten, sondern tragen unmittelbar und nachhaltig zur Sicherung der Musik- und Kulturlandschaft bei.“

Das heißt eigentlich ins Deutsche übersetzt: Weil leere Konzert- und Theatersäle nicht so gut klingen, braucht man Kulturvollfüllungs-Sitzvieh für die Veranstaltungen, wo das der Fall ist. Das Konzeptpaper spricht es sogar tatsächlich so an: „Die Initiative leistet einen kurzfristigen Beitrag um freie Plätze in Konzert- und Opernhäusern unkompliziert mit jungem Publikum zu füllen.“

Bei ausverkauften Veranstaltungen möge das junge Publikum bitte draußen bleiben oder sich ordentlich in die Reihe der Interessenten zum festgelegten Preis einreihen. Sonst würde das junge Publikum womöglich stören und leider „logistische Mehrkosten“ verursachen.

Nachhaltigkeit und Sicherung der Kulturlandschaft heißt irgendwie: „Komponisten, Autoren und Interpreten – sie alle verdienen ein zahlreiches Publikum.“ Komponistinnen, Autorinnen und Interpretinnen schon mal nicht. Ach ja, wir befinden uns in dieser vorsteinzeitlichen Sprachhaltung, die dieses Konzert- und Theaterwelt so liebenswert macht, ich vergaß.

Für den mittel- und langfristigen Nutzen reklamiert das Konzeptpaper: „Überzeugen Programm und Ambiente, kann die Initiative nachhaltig wirken.“ Wenn nicht, übrigens auch: Dann geht man da erst recht nicht mehr hin. Klasse Idee, zukunftsweisender Impuls!

Man könnte das Konzeptpaper weiter durchkauen, aber es wirkt, nicht nur in seiner sprachlichen Durchgestaltung, eher schlicht. Und wirft damit natürlich auch ein eigenartiges Licht auf die dort angesprochene Szene, ihre Agenten und ihr Publikum. Dass sich da der Deutsche Musikrat als potenter Partner andient, lässt auch in dieser Richtung wenig Hoffnung auf eine tatsächlich wirksame und pädagogisch wie gesellschaftlich Initiative hoffen. Ein bisschen Kritik hat sich immerhin geregt.

Kritik vom Fachmann

Gerald Mertens, der Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, twitterte zum Vorstoß des Deutschen Musikrates:

„Wenn es so einfach wäre. Angesichts zahlreicher Rabatte für junge Leute ist der #Ticket-Preis für ein #Konzert nicht die entscheidende Hürde. Es geht vielmehr um mehr Nähe zum #Publikum. #ClassicalMusic orchesterland.wordpress.com/2022/05/27/str @HoeppnerKV @DMusikrat

Der Zugriffspunkt über den Ticketpreis spiele eine untergeordnete Rolle, vermutet wenigstens Mertens. Wenn es primär um die Frage von „Nähe“ ginge, wie Merterns ebenfalls mutmaßt, dann ist das eben doch etwas, was normalerweise ein längerer Prozess der Vertrauensbildung voraussetzt und nicht eben schlicht: Überredung oder Manipulation durch Kulturfunktionsbeamte.

In jedem Fall sieht Mertens die Lage differenziert in seinem verlinkten Artikel über den „Strömungsabriss in der Klassik“. Ein bisschen zurückhaltend bleibt er dennoch bei seiner Kritik der Initiative von Musikrat und Concerti: „Kann sein, wenn der Ticketpreis für junge Menschen bis 35 eine entscheidende Barriere darstellt. Es käme zumindest auf einen Versuch an.“

Allein: Für Versuche ist eigentlich die Zeit nicht da, wenn man der Diagnose von Musikrat und dem kostenlosen concerti-Musikmagazin zustimmen wollte, zumal der „Impuls für ein lebendiges Musikleben“ bis Ende des Jahres 2022 gesetzt werden sollte. Nebenbei: Auch für die Umsetzung vom Plan in die Tat ist diese Konzertticket-Idee terminlich eine sportliche Angelegenheit.

Und zu allerletzt, zahlreiche Veranstaltungen, die die kulturelle Vielfalt abbilden und bilden, laufen unter dem wirtschaftlichen Radar solcher bürokratischen Gedankengänge und kennen beispielsweise kein Ticketing dieser Art, das man auf diese Weise „abrechnen“ könnte – wie mancher Club für Jazz und Kleinkunst …

Sorry, wir sind eben gut darin, die Sachen kaputtzuflicken, nicht, um ihnen auf den Grund zu gehen.

Was diese Idee wirklich zum Ausdruck bringt

Wenn man es wenigstens so ehrlich formulieren würde, wie es gemeint ist, wäre ein umgedrehtes Kulturticket nämlich noch viel wirksamer und nachhaltiger. Man müsste nur sein Publikum für die Teilnahme bezahlen, also mindestens 9 Euro für jeden Theaterbesuch geht ins Portemonnaie des jungen Publikums – pro Person. Damit könnte man die Säle auch im Nu füllen und zugleich nachhaltig positive Erfahrungen im Kulturturbokapitalismus neoliberaler Prägung generieren. Da lohnte sich ein Konzert- oder Theaterbesuch nicht nur ideel, sondern sprichwörtlich. Wenn man sich dabei am Mindestlohn orientieren würde, dann wäre eine Oper von Wagner für die Besucher tatsächlich auch finanziell reizvoll. Und da klatscht man doch gleich länger, wenn man im Konzert damit eine Zugabe bewirken kann, die eine nächste bezahlte Besuchsstunde anbrechen lässt.

Vollkommen ideologisch werden Ideen dann, wenn sie verdecken, wie Kulturfinanzierung tatsächlich geregelt ist. Nicht nur, dass es zahlreiche Anreizmodelle für den Zugang jüngerer Publikumsschichten sowieso seit eh und je gibt (mag sein zu wenige und zu wenig wirkungsvolle), sondern der ganze Kulturzirkus wird ja längst unterstützt. Mertens auf Twitter:

„Faktisch ist das betriebswirtschaftlich doch schon so. Im bundesweiten Durchschnitt ist jede #Konzert-/#Theater-Karte zu 82% öffentlich und nur zu 18% durch das Publikum finanziert. Hat was mit Kulturstaat und Teilhabe zu tun. #KulturFürAlle““

Eine soziale Frage

Was ist uns also das Musikleben wert? Soll es eine durch künstliche Subventionen am Leben gehaltene, voll systemirrelevante Institution des Bürgertums sein, welche sonst dahinsiechen würde, weil die, die es bisher tragen, ihren Solibeitrag (nicht nur finanzielle Art übrigens) nicht länger leisten wollen? Oder muss sich das Kulturleben als Ganzes nicht eher darin bewähren, dass es etwas beiträgt, wonach auch eine Nachfrage besteht und ein Wunsch, daran teilzuhaben. Und wo man deshalb die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen so gestalten muss, dass dies überhaupt möglich ist und dann auch geschehen kann?

Der Kunsthistoriker Edgar Wind schrieb bereits 1963 in seinem Essay „Kunst und Anarchie“ treffsicher: „Wenn die Kunst wieder eine Rolle im Zentrum unseres Lebens spielen soll, so wird sich zunächst einmal unser Leben ändern müssen, ein Vorgang, der von Künstlern und Kritikern allein nicht abhängt.“

Eine bittere Mahnung hat er ebenfalls noch für uns: „Machen wir uns nichts vor: Kunst ist unbequem, ganz besonders für den Künstler selbst.“

 

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