18. April 2024 Die Masse lebt

„Aufhören der Trennung von Künstler und Mensch“ [De Stijl, 1922]

De Stijl” hatte in Düsseldorf im Jahr 1922 seine “schöpferischen Forderungen” in fünf Punkten zusammengefasst. Auch hier (wie beim polnischen Manifest von Bruno Jasienski), unter Punkt 5 wird ein Zusammenfallen von Künstler und Mensch gefordert, positiv gedeutet (“Aufhören der Trennung”). Bei Punkt 4 findet sich ebenfalls eine nicht unbekannte Forderung: “Aufhören der Trennung von Kunst und Leben. (Kunst wird Leben.) (Applaus)”. (Schöpferische Forderungen von “De Stijl”, in: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Stuttgart 2005, S. 275)

“Kunst wird Leben” ist dabei präzise so zu verstehen, dass nicht das Leben zur Kunst wird, also nicht das Leben zu ästhetisieren ist, d agegen aber Kunst zum Lebensgegenstand zu werden habe. Wobei sicher “Gegenstand” hier nicht ganz die Sache trifft. Der “röhrende Hirsch” an der Wand über dem Sofa ist zum Beispiel längst Gegenstand des Lebens. Vielleicht aber, so wird ein Schuh draus, ist er eben nicht Kunst. Damit handelt man sich ein kleines Problem ein, das man unter Punkt 3 zu eng angeht: “Entwicklung eines universalen eindeutigen Gestaltungsmittels für alle Künste.” Was kann das sein?

Man kann nur mutmaßen, welche Motivation hinter der Forderung nach der Verbindung von Mensch und Künstler steht. Ich denke, es wird damit unter anderem etwas gegen den Begriff der Kunst aus dem Volke, einer Volkskunst, entgegengesetzt und dadurch mit der “fortschrittlichen Kunst” verbunden. Eben, dass man sich gerade ja nicht eine Kunstelite verstanden wissen will, aber auch nicht als Verwalter einer dumpfen Volkstradition. Wenn jeder Mensch ein Künstler sein kann, dann gehört die Kunst zum Leben und ist nicht von diesem zu trennen. Man gewinnt Abstand zur Tradition, der gegenüber niemand verpflichtet sein soll. Die Schwelle zur Kunst soll damit auf das Niveau des allgemeinen Lebens herabgesenkt werden.

Diese Tendenzen könnte man nun zu der Zeit tatsächlich auch im musikästhetischen Bereich nachvollziehen. Dokumente des Alltags wie Zeitungsausschnitte (Zeitungsausschnitte von Hanns Eisler 1925-1927) oder Transportmittel (immer wieder die Eisenbahn wie in Pacific 231 von Arthur Honegger von 1923) bekommen gehen in die Musik ein.

Ich zitiere mich mal selbst:

Die „Zeitungsausschnitte“ stehen in einer ästhetischen Tradition, die seit Duchamps „Flaschenständer“ (1913) als Gegenbewegung zum ,19. Jahrhundert den menschlichen Alltag zum Kunstgegenstand erhöht. Diese Tradition erhält bei Eisler eine eminent politische Stoßrichtung. So wie die Texte dem Tagesablauf des gewöhnlichen Lebens entnommen sind – hier reimt sich nicht Schmerz auf Herz, sondern Arbeitslosigkeit auf Inflation – stellt sich die Musik in sinnfällige Beziehung zum Text. Wenn beim ersten Stück „Mariechen“ der deutsche Männerchor auftritt, wendet sich die Musik plötzlich ironisch auf das Feld der „bürgerlichen Gesangsvereine“. Genauso eindringlich ist die Musik im „Liebeslied eines Kleinbürgermädchens – Heiratsannonce“‘ das – gemäß der Vortragsbezeichnung – sehr „schlicht, einfach: ohne jede Parodie, Humor, Witz etc. vorzutragen sei. Durch die Verwendung rhythmisch und melodisch markanter Idiome führt Eisler den Text zur Selbstentlarvung, ohne sich darüber lustig zu machen. Dafür symptomatisch ist auch das „Liebeslied eines Grundbesitzers – Heiratsannonce“: Nach ausladenden melodischen Gesten verkriecht sich das Subjekt in seiner verzagten „Chiffre-Meldung“. [Musikkritik.Org]

Der Unterschied ist eben allein, hier wird “Leben zur Kunst” (eher Alttagswelt in Kunst umgeformt) und nicht “Kunst zu Leben”. Da kommt der zweite Schritt nach dem ersten: indem die Künstler Kunst in die Lebenswelt zurückspiegeln. Die Sache wird ja verzwickt dadurch und ließe sich eigentlich nur dadurch lösen, dass man die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben trachtete. Aber das gerade macht man nicht. Die Kunst bliebe Kunst, auch wenn sie zu Leben würde. Umgekehrt aber verschwindet Kunst in dem Moment, wenn sie das Leben wäre.


Die “Forderungen” waren Teil des umfangreichen Rechenschaftsberichtes der “Stijl”-Gruppe auf dem “Kongress der internationalen fortschrittlichen Künstler” in Düsseldorf im Mai 1922. (Diese Quellenangabe erfolgt nach: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Stuttgart 2005, S. 439).

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