18. April 2024 Die Masse lebt

Aufstieg oder Abstieg [Baltasar Gracián]

Wenn noch etwas Zeit ist, geht der Blick in Werke des spanischen Autors Baltasar Gracián. Den “Das Kritikon” gibt es wohl neu übersetzt, ein absurdes Buch. Man kann an jeder Stelle anfangen zu lesen, immer wieder wird man eine Merkwürdigkeit finden. Erinnert mich glatt an Musil, dessen Mann ohne Eigenschaften man nun wirklich nicht anders lesen kann als mit dem breitesten Grinsen.

Bei Gracián, einer Empfehlung Luhmanns folgend, ist es anders. Da wirken alle Dinge so absurd, so fremd. Ein kleines Buch musste reichen für den Anfang. Es nennt sich Handorakel und Kunst der Weltklugheit. An sich, dem Titel nachgehend, eine Sache für den Hokuspokus-Fan. Denkste. Ist nicht so. Es handelt sich um 300 kurze Ratschläge, Hinweise und Beobachtungen. Fast allen kann man direkt ohne Umschweife zustimmen.

Manchmal lese ich derlei zum Aufwachen. Schadet nicht. Heute war es aber schwierig, denn die Sprache der deutschen Übersetzung wirkte sehr gestelzt, sehr bemüht. Oder anders: Nicht einfach zu lesen.1Ich merke es daran, wenn das laute Vorlesen nicht so ohne Umschweife gelingen will. Und wer hats übersetzt: Arthur Schopenhauer, hätte man auch einfacher drauf kommen können. Nr. 162 war sehr prima. Aber Nr. 170 endete zitierend zum Thema Bei allen Dingen stets etwas in Reserve haben mit den Worten des Hesiodus: “Mehr ist die Hälfte als das Ganze” (“πλέον ἥμισυ παντός”). Nicht, dass ich griechisch könnte.

Sucht man die tolle Suchmaschine Google nach diesem Satze ab, dann erhält man nur drei Ergebnisse. Eine führt zu Wiki, eines zum Zitat-Archiv und ein letztes zur einem Entkomplexitäter. Der darauf verweist und meint, mit der Hälfte erreicht man mehr als mit der Erfüllung eines Parameters auf 100 Prozent. Das will mir nicht genügen. Gracián sagte zuvor, ähnlich paradox: “Auch im Wissen muss es eine Arrieregarde geben, man verdoppelt dadurch seine Vollkommenheiten.”

Die Vollkommenheit verdoppeln durch das Halbieren. Ich kann mir schon denken, dass mancheiner sagen wird, wie kann man denn überhaupt: Vollkommenheit verdoppeln. Vollkommen ist vollkommen. Man kann es nicht doppeln. Anscheinend verstehe ich dann entweder von Logik nichts oder doch alles falsch; denn das Gemeinte und das Gesagte stehen in Ergänzung. Manchmal muss man sich über die Schranken der Sprache bewegen, obwohl man in ihr zugleich bleibt. Das eine ist gleichfalls nicht das andere, wenn jemand – immer öfter – sagt, es etwas das Einzigste. Das mag wunder nehmen, aber es wird sich durchsetzen.

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Fussnoten:

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    Ich merke es daran, wenn das laute Vorlesen nicht so ohne Umschweife gelingen will.