20. April 2024 Die Masse lebt

Masse und Macht

Man kommt zu nichts mehr. Krystian von der Berliner Gazette bat mich, im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem G8-Treffen in Heiligendamm doch einen Beitrag zu einer Reaktion herzustellen. Dabei handelt es sich um das Erzeugnis masseundmacht.com. Viel ist da nicht zu finden, aber wohl ein Musikbeitrag von Christian von Borries. Und damit fängt es an. Es ist kein musikalisches Beispiel sondern ein akustisches, das auch Elemente von Musik in sich fasst. Es ist ein aksutisches Bild. Sehr verrätselt und doch in einem Punkt extrem präzise. Darin wird ein Ton mit einiger Lautstärke ab 1’20” und dann noch mal um eine Oktave versetzt ab etwa 2’58” angstimmt. Es handelt sich wohl um die Tonhöhe g, ob es g8 ist, kann ich jetzt nicht bestätigen. Der eine Ton liegt bei 6112 Hz, der zweite bei 12224 Hz. Eine Oktave drüber wäre nicht mehr zu hören.

Peak 1

Das ist ein Peak, ein g8-Peak.

Peak 2

Zu den dort verwendeten Materialien gibt es folgende Angaben:

Voices of the G8 leaders, taken from youtube.com, were re-recorded at the courtyard of the Kempinski Hotel Heiligendamm, while the World Economic Summit took already place. The specific G8 sinus wave was provided by Michael Iber. The destruction sound of Berlin’s Buddy Bear was recorded by Andreas Siekmann. All additional sounds were found on limewire.com. Everything was sampled and made by Christian von Borries and mastered by Kassian Troyer.

Die Materialien sind allerdings fast nicht direkt nachhörbar. Wenn man es nicht weiß, hört man es selbst beim besten Willen so gut wie nicht. (Also, ich habe da nichts raushören können). Das ist alles sehr artifiziell gedacht und dennoch ragt dieses akustische Bild aus anderen musikalischen Beiträgen zewcks g8-Gipfel heraus, weil es ihn direkt musikalisch angeht. Aber dabei nicht im unmittelbar-sprachlichen (bestenfalls eben musiksprachlichen) arbeitet. Kein Slogan steht außen an, keine Kommunikation wird erbracht. Und doch ist das Stück gesättigt.

Ein Freund von mir beklagte vor einigen Wochen, als ich ihn darauf hinwies, dass einige Bands um Heiligendamm herum irgendetwas planten: “Ja warum sind wir nicht dabei.” Und er meinte damit die Neue-Musik-Szene. Dass diese in der Regel sich selbst als gesellschaftskritisch versteht, jedenfalls zu weiten Teilen, ist ja nichts neues. Aber einen Platz unter dem Demonstrationsangebot findet sie nicht; man fragt nicht danach, man meldet sich aber auch nicht. Es ist auch schwer auszudenken, in welcher Form so ein Angebot könnte stattfinden. Christian Borries’ Weg wäre sicher eine Möglichkeit, mindestens ist es ein probeweiser Versuch. Denn ein Stück von Luigi Nono vor den Toren von Heiligendamm ginge gar nicht. Das würde schon der Wind zerrauschen.

Das Internet wäre aber ein möglicher Ort als Nichtort. Die Autoren des Stück schreiben zum Ende:

“Kommunikation ist unwahrscheinlich… Sie hat keinen Zweck. ”
“Communication is unlikely… It serves no purpose.”
(Niklas Luhmann)

Vielleicht bringt auch das noch tragender zum Ausdruck, dass man sich von einer vollendeten Mitgliedschaft im Strom verabschieden will und muss. Man kann dies nur vermuten. Auch der Titel der Website selbst: Masse und Macht legt möglicherweise dies nahe. Da wäre nicht nur der Bezug zum gleichnamigen Buch von Elias Canetti (was ich leider nie gelesen habe; daher kann dazu keine Ausführung gemacht werden – siehe aber hier).

Vielleicht ist es auch was ganz anderes. Und wenn, wüsste ich es auch sehr gerne.

[Nach Diktat verreist.]

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6 Kommentare

  1. Das Luhmann-Zitat ist arg
    Das Luhmann-Zitat ist arg aus dem Zusammenhang: „Kommunikation [heißt] Beschränken sich selbst und den anderen unter Beschränkung setzen“ [N. Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt 1988, S. 66]. Etwa durch Schematisierung die „in allen Kommunikationsprozessen vorausgesetzt werden muss“ [ebd, S. 126].
    Wie wird da die Kurve zwischen Canetti und der Systemtheorie gemacht? Das auf räumliche Abgrenzung bedachte Individuum kann bei Canetti in der Masse seine gesellschaftlichen Zwänge ablegen, bei Luhmann erlebt er sie.
    Mir ist es übrigens sehr häufig so gegangen, dass ich bei den Worten „Masse und Macht“ an Canetti dachte und auf Nachfrage stellte sich heraus, dass dies meist so nicht intendiert war, teilweise nur alliterationsverliebt geäußert wurde, in der Wortbedeutung gar nicht auf die Macht der Masse abgehoben wurde, sondern dies als ein Gegensatz gebraucht wurde: Hier die Masse da die (wenigen) Mächtigen.

    Die Interpretation von Herbert Arlt halte ich übrigens für gewagt, streckenweise zumindest. So ist etwa ein postulierter Zusammenhang zwischen Huntington und Canetti sehr konstruiert.

    Und schließlich ist Canetti, auch wenn er Adorno einen „Karpfen“ genannt hat, durchaus lesenswert und seine Mischung aus Literatur und ethnologischer Studie ist zwar nicht hofartig, aber voller origineller Ideen und unerwarteter Gedanken.

    Und auch: Warum Mensch bei solchen Anlässen so ausschließlich von Unterhaltungsexperten wie bots, Grönemeier, Juli und dergleichen beschallt wird und so jede vernunfthaltige Musik fehlt, will mir aber gar nicht in den hörgeschädigten Kopf.

    [Nach Diktat eingeschlafen]

  2. Ich würde dazu gerne was
    Ich würde dazu gerne was sagen, bin aber auf Unterwegs und nicht für lange Antworten zu haben. Zudem habe ich mein theoretisches Zelt im Moment wieder um 30 Jahre nach hinten verlagert und denke über Baudrillards “Kool Killer” nach. Ich habe den ja mal verbannt. Doch scheint mir da noch einiges zu entsdecken zu sein.

    Masse und Macht. Ich habe es ja mal mit einer “Kritischen Masse” probiert. Naja. Eigentlich auch jetzt noch. Vermutlich muss man das noch einmal ganz anders denken. Und dabei erhoffe ich mir Anstösse bei Baudrillards “Requiem für die Medien.”

    Bald mehr.

  3. Zum letzten Punkte noch
    Zum letzten Punkte noch etwas, Buster. Ich weiß nicht, ob du dich an die 80er Jahre erinnerst. Damals war ich Abonnent der “Roten Blätter”. Die waren gerade im Übergang von orthodox zu Sputnik. Die Stelle der Kultur, insbesondere der Musikkultur, war dort auf eine ganz außerordentliche Weise, was ich ausnahmsweise einmal doch “spießig” nennen würde.

    An der Kunst interessierte das Kunstvolle, und daher “Bürgerliche” – ganz besonders der sog. Avantgarde – nicht. Es ging um Rhetorik, um die Konstruktion konkreter Appelle. Damit war man (oder wähnte man) sich als Gegenkultur. Eine Veränderung der Sprache(n) der Kunst war nicht intendiert.

    Und auf der anderen Seite ein Henze mit dem “Kunst sei nolens volens politisch” womit man sich ebenso verabschiedet hatte. Unter den Bedingungen musste zweifellos jemand wie Cage als Retter in der Not erscheinen. Denn der klinkte sich da heraus. Er hatte keine Antworten zu geben, keine Anweisungen zu verteilen. Kein Kader- und kein Kadavergehorsam. Dies solitäre war vermutlich die effektivste Form der Veränderung in und durch Musik.

    Aber das nur mal ganz schnell hingehaucht jetzt.

  4. Buster, ich habe die Stelle

    Buster, ich habe die Stelle gefunden. Luhmann hat das so gesagt: “Die Unwahscheinlichkeit der Kommunikation”, in: Soziologische Aufklärung 3 etc. pp, 1981. Ich habs jetzt zufällig gefunden, weil ich das Kursbuch Medienkultur mir zugelegt habe. (Den zweiten Satz, sie habe keine Zweck, habe ich auf die Schnelle nicht finden können.

  5. Ach ja: Die „Roten
    Ach ja: Die „Roten Blätter“! Das Verständnis von Kultur war ja nicht nur dort ein sehr Schollengebundenes. Aus dem Arbeiter- und Bauern-Volk musste die kommen und bloß keine Avantgarde sein, gehäkeltes Spitzendeckensozialmus allenthalben, unter Staub konserviert.

    Das mit dem Luhmann-Zitieren finde ich schon ärgerlich: Denen, die so ein Zitat woher auch immer aus welchem Zusammenhang auch immer reißen, ist doch unterm Strich egal ob der Autor Hans Albers oder Luhmann war, oder gar was der damit zum Ausdruck bringen wollte, Hauptsache das bisschen Satz passt in deren Weltbild das sich aus einem Proseminar der Soziologie konstituiert. Nee, nee: Ich nehme immer noch viel zu viele Menschen zu ernst und glaube tatsächlich noch, sie hätten was zu sagen, sie wollten was sagen und ich könnte etwas damit anfangen.

    Interessant übrigens, dass der Kultursoziologische Teil von Luhmann grade wiederentdeckt zu werden scheint, sogar in Verlagshäusern glaubt man einen Trend ausgemacht zu haben und sucht händeringend „Experten“ ;-).

  6. Das ist wohl wahr. Gestern
    Das ist wohl wahr. Gestern im Zug habe ich den Text dann auch mal gelesen. Der Satz steht da auch nicht als Gesetztes oder Erkanntes. Er ist ein Hypothese zur Theoriefindung. So würde ich das wenigstens verstanden haben.

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