18. April 2024 Die Masse lebt

Sociologie am Äh-Steh-Tisch

Zum Leidwesen vieler meiner Bekannter bin ich, trotz meines Bekenntnisses zu neuen Musik, ein Historiker. Da beschäftigt man sich in der Regel mit alten Texten. Als Historiker aber arbeite ich nicht sauber genug. Der historische Stich, die Anregung, das ist es, was mich interessiert. Probleme nebensächlicher Art meistens. So erinnere ich mich an die Suhrkamp-Edition von Georg Simmels “Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung” von 1908. Da Simmel dieses Werk nicht als Ganzes konzipiert hatte, sondern Stück um Stück zusammentrug, musste auch er sich mit Fragen der Orthographie auseinandersetzen. Das Werk wuchs zwischen 1900 und 1908 zusammen, greift aber auch auf ältere Texte zurück. In dieser Zeit müssen, wenn die Angaben des Herausgebers stimmen, mindestens zwei Schriftwerke zur Orthographie entstanden sein.

Einmal die Orthographische Konferenz von 1901 und 1907 das Werk »Rechtschreibung der Buchdruckereien deutscher Sprache«, hrsg. v. Biobliographischen Institut, bearbeitet von Konrad Duden, 2. verm. u. verb. Aufl., Leipzig u. Wien 1907. Der Herausgeber hatte jetzt die Aufgabe, alles wenigstens so anzugleichen, dass nicht in einem Kapitel Worte mal so, im anderen dann anders auftauchen. Der ältere (jüngere) Simmel schrieb noch “Energieen”, “Garantieen” und man kürzte ihm dann ein “e” am Ende weg. Auch schrieb er früher “giltig” statt “gültig”, “Gehülfe” statt “Gehilfe”, “transszendent” statt “transzendent”. Man kann sehen, wie sich die Orthographie langsam anpasst und daher aufeinander abgepasst werden mußte. Einige Worte hat der Herausgeber im Sinne der Orthographie von 1907 rekalibriert (mir fällt da kein besseres Wort ein):
allmählich statt allmählig, Balance statt Balanze, Gefängnis statt Gefängniß, gibt statt giebt, Kompromiß statt Kompromis, Kristall statt Krystall, Latitüde statt Latitude, Not statt Noth, Nuance statt Nüance, Sprichwort statt Sprüchwort, tun statt thun, Usance statt Üsance, Waage statt Wage, Zölibat statt Cölibat.
Eine Modernisierung der Orthographie durch uns beschränkt sich, um Mißverständnissen vorzubeugen, auf folgende drei Wörter und die von ihnen abgeleiteten Formen:
Feme statt Vehme bzw. Veme, Fron statt Frohn und souverän statt suverän.

Otthein Rammstedt: Editorischer Bericht, in: Georg Simmel, Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, Frankfurt/M. 1992, S. 879.
Warum ich das so ausführlich zitiere? Gegen neue und alte Rechtschreibregeln und Änderungen der Orthographie wird gerne das Argument fehlender Berücksichtigung ästhetischen Gespürs angebracht. Mir ist nicht klar, was man damit argumentiert. Ist nicht auch “Vehme” schöner als “Feme”, oder wie bei Hölderlin: Ist nicht “ächt” schöner als “echt”, “Karakter” als “Charakter”; ist nicht “suverän” (der Simmel konnte französisch) besser als “souverän”. Nein, nichts ist schöner und mit Ästhetik hat das alles schon gar nichts zu tun.

Das ist bloß das Niveau ästhetischer Urteile (mir sträubt es sich, dieses Wort hier zu verwenden) derer, die ebenso weiße Tennissocken in Sandalen “unästhetisch” finden wie die hochzitierte Schifffahrt. Ästhetisch, ästhetischer, am ästhetischten – hier ist man endgültig am Äh-Stehtisch der Verblödung gelangweilter Geistesbureaukraten gelandet.

Bitte aber auch Semmels Kolumne von heute zu den Wurzeln lesen.

Zum Leidwesen vieler meiner Bekannter bin ich, trotz meines Bekenntnisses zu neuen Musik, ein Historiker. Da beschäftigt man sich in der Regel mit alten Texten. Als Historiker aber arbeite ich nicht sauber genug. Der historische Stich, die Anregung, das ist es, was mich interessiert. Probleme nebensächlicher Art meistens. So erinnere ich mich an die Suhrkamp-Edition von Georg Simmels “Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung” von 1908. Da Simmel dieses Werk nicht als Ganzes konzipiert hatte, sondern Stück um Stück zusammentrug, musste auch er sich mit Fragen der Orthographie auseinandersetzen. Das Werk wuchs zwischen 1900 und 1908 zusammen, greift aber auch auf ältere Texte zurück. In dieser Zeit müssen, wenn die Angaben des Herausgebers stimmen, mindestens zwei Schriftwerke zur Orthographie entstanden sein.

Einmal die Orthographische Konferenz von 1901 und 1907 das Werk »Rechtschreibung der Buchdruckereien deutscher Sprache«, hrsg. v. Biobliographischen Institut, bearbeitet von Konrad Duden, 2. verm. u. verb. Aufl., Leipzig u. Wien 1907. Der Herausgeber hatte jetzt die Aufgabe, alles wenigstens so anzugleichen, dass nicht in einem Kapitel Worte mal so, im anderen dann anders auftauchen. Der ältere (jüngere) Simmel schrieb noch “Energieen”, “Garantieen” und man kürzte ihm dann ein “e” am Ende weg. Auch schrieb er früher “giltig” statt “gültig”, “Gehülfe” statt “Gehilfe”, “transszendent” statt “transzendent”. Man kann sehen, wie sich die Orthographie langsam anpasst und daher aufeinander abgepasst werden mußte. Einige Worte hat der Herausgeber im Sinne der Orthographie von 1907 rekalibriert (mir fällt da kein besseres Wort ein):
allmählich statt allmählig, Balance statt Balanze, Gefängnis statt Gefängniß, gibt statt giebt, Kompromiß statt Kompromis, Kristall statt Krystall, Latitüde statt Latitude, Not statt Noth, Nuance statt Nüance, Sprichwort statt Sprüchwort, tun statt thun, Usance statt Üsance, Waage statt Wage, Zölibat statt Cölibat.
Eine Modernisierung der Orthographie durch uns beschränkt sich, um Mißverständnissen vorzubeugen, auf folgende drei Wörter und die von ihnen abgeleiteten Formen:
Feme statt Vehme bzw. Veme, Fron statt Frohn und souverän statt suverän.

Otthein Rammstedt: Editorischer Bericht, in: Georg Simmel, Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, Frankfurt/M. 1992, S. 879.
Warum ich das so ausführlich zitiere? Gegen neue und alte Rechtschreibregeln und Änderungen der Orthographie wird gerne das Argument fehlender Berücksichtigung ästhetischen Gespürs angebracht. Mir ist nicht klar, was man damit argumentiert. Ist nicht auch “Vehme” schöner als “Feme”, oder wie bei Hölderlin: Ist nicht “ächt” schöner als “echt”, “Karakter” als “Charakter”; ist nicht “suverän” (der Simmel konnte französisch) besser als “souverän”. Nein, nichts ist schöner und mit Ästhetik hat das alles schon gar nichts zu tun.

Das ist bloß das Niveau ästhetischer Urteile (mir sträubt es sich, dieses Wort hier zu verwenden) derer, die ebenso weiße Tennissocken in Sandalen “unästhetisch” finden wie die hochzitierte Schifffahrt. Ästhetisch, ästhetischer, am ästhetischten – hier ist man endgültig am Äh-Stehtisch der Verblödung gelangweilter Geistesbureaukraten gelandet.

Bitte aber auch Semmels Kolumne von heute zu den Wurzeln lesen.

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10 Kommentare

  1. Die TAZ zum Thema:
    Das kommt

    Die TAZ zum Thema:
    Das kommt also dabei heraus, wenn sich die mächtigsten Medienmänner des Landes besser verstehen, als es einer demokratischen Öffentlichkeit gut tut. Jubeln können jetzt allenfalls alle Ewiggestrigen: die, die schon aus Prinzip gegen jede Veränderung oder gar Liberalisierung bestehender Regeln sind. Die Leidtragenden sind andere: die Schülerinnen und Schüler, die schon seit Jahren nach den neuen Regeln lesen und schreiben lernen.

  2. Ihr Lieben, ich sage nur

    Ihr Lieben, ich sage nur soviel: mit der alten Schreibung, die hoffentlich bald wieder verbindlich sein wird, lassen sich Gedanken so ausdrücken, daß ein Leser diese auf Anhieb verstehen kann (kann – Möglichkeitsform). Die neue Schreibung ist ein arges Hindernis dafür, und insofern ist eine Umkehr im Interesse der Schüler. Experimente ausbaden ist Schülerschicksal – an uns wurde die Mengenlehre getestet, Schreck laß nach!

  3. Dicki, auch ich habe die

    Dicki, auch ich habe die Mengenlehre lernen müssen (dürfen). So schlecht ist das gar nicht. Hätte man es einfache zweidimensionale Logik genannt, wäre es sicher schlauer gewesen, hätte jedoch nur Unverständnis hervorgerufen.

    Ich habe auch bis zu einem gewissen Grade Verständnis für die, die die alten Schreibnormen besser finden. Was ich aber überhaupt problematisch finde, ist, dass man so viele Hoffnungen in die Schreibnormen überhaupt setzt. Anders als bei der Mengenlehre wird man da kein stimmiges, konsistentes System entwickeln können. Sprache und Rechtschreibung sind Veränderungen unterworfen, die sich immer wieder ereigenen. Plötzliche Mutationen, Schreibgefühl etc. pp.

    Das sollte schließlich auch der Exkurs zu Simmel und Hölderlin deutlich machen.

    Natürlich, das wird niemand ernsthaft bestreiten können, gibt es Probleme, die die neue Rechtschreibung aufwirft. Ich halte den Vorschlag des nordrhein-westfälischen Kulturministers Vesper gestern im Deutschlandfunk für richtig, die schlimmsten Verschlimmbesserungen zu korrigieren.

    Die gerade einsetzende Verbetonisierung zwischen Alt und Neu empfinde ich dagegen als unwürdige Maßnahme. Mein einziges Beispiel für eine Verschlechterung ist die Veränderung des Wortes “Portrait” zu “Porträt.” Dass das keinen Sinn ergibt, ist evident. Hätte man tatsächlich tabula rasa machen wollen, hätte man so konsequent sein düfen “Porträ” verpflichtend zu machen und das “Niwo” gleich mit.

    Fremdwörter schreibtechnisch eindeutschen zu wollen, ist nicht hilfreich. Man wird früher wie heute nicht umgehen können, dass man bestimmte Worte einfach lernen muss. Dann lernt man eben, dass es numerieren heißt und nicht nummerieren (habe ich in meiner kompletten Magisterarbeit falsch geschrieben). Rechtschreibung fällt einem so oder so nicht in den Schoß. Ohne Einbimsen geht da gar nichts. Wer diese Hoffnung gehegt hat, der versteht nichts von Sprache.

  4. Ja, Dicki, und eine

    Ja, Dicki, und eine Ergänzung noch. Weit entfernt davon, Hüter der Rechtschreibung sein zu wollen, sein zu können, zu sein. In deinem letzten Text http://derwahredicki.twoday… verwendest du das Wort “brilliant” – keine Ahnung, wie das nach heutiger Schreibung korrekt ist, nach alter wäre es jedenfalls nicht korrekt. Da fällt das letzte “i” raus: “brillant” (Duden 1961 und Duden 1991 sagen dies jedenfalls).

    Noch einmal zu “numerieren” zurück: Dies sind die Dinge, die einfach keinen Spaß machen an der deutschen Sprache oder gerade dies eben doch. Meine beiden Duden (1961 und 1991) erklären das Wort mit “beziffern, [be]nummern”. Bei “numerisch” geht aber auch “nummerisch” (reziprok), eines steht für das andere. Das eine findet man unter “Nummer”, das andere unter “Numerale”. Ein – meines Erachtens – typisches Beispiel dafür, dass Rechtschreibung nur unbestimmt etwas mit Logik zu tun hat.

    Zu “brillant” habe ich Netz jetzt sogar eine offizielle Antwort der Duden-Redaktion gefunden, die ich einfach mal herklaue:

    “Allen steht es frei, ein Wort zu benutzen – oder auch nicht. Allen steht es frei, Wörter einzuführen, zu ”erfinden“, in Umlauf zu bringen und zu versuchen, sie durchzusetzen.

    Dies ist keine Frage des Beantragens bzw. Zulassens, sondern eine Frage des Gebrauchs, der Akzeptanz – und vor allem der Notwendigkeit, ein bestimmtes Wort zur Verfügung zu haben.

    Und darum hat sich die Version ”brilliant“ wohl noch nicht etabliert! Es gibt ja ”brillant“ seit langem (mit Betonung auf der letzten Silbe). Es scheint zu genügen. Wozu also noch ”brilliant“ (mit Betonung auf der ersten Silbe, zudem englisch ausgesprochen)?

    Vielleicht verbreitet sich auch ”brilliant“ als weiterer Anglizismus. Dies bleibt abzuwarten. – Allerdings stimmt es, dass ”brillant“ sehr oft falsch geschrieben wird, eben mit zweitem i.

    Mit freundlichen Grüßen

    Dr. Gerhard Müller
    Sprachberatung
    Gesellschaft für deutsche Sprache
    Spiegelgasse 13, D-65183 Wiesbaden”

  5. Völlig richtig,

    Völlig richtig, “brilliant” (korrekt “brillant”) habe ich falsch geschrieben, und zwar, weil ich zu bequem war nachzusehen. Wird schon stimmen … Das ist ärgerlich, aber auch typisch für die große Verunsicherung durch das Nebeneinander von alt und neu und der zunehmenden keiner Regel entsprechenden Verschreiber. Ich war früher in diesen Dingen sicherer (keineswegs fehlerfrei), weil es eine einzige Schreibung zur Orientierung gab. Die galt in alten und neuen Büchern ebenso wie in Zeitungen und Illustrierten.

    Es stimmt, daß auch Schriftsprache sich verändert. Es ist aber nicht zu akzeptieren, daß Veränderungen verordnet werden, zumal, wenn sie so stümperhaft gestrickt sind wie jene, die nun hoffentlich auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Schaden haben sie schon genug angerichtet. Also weg damit. <a href=”http://www.rechtschreibrefo…“>Buchempfehlung zum Thema</a>

    Meinetwegen auch aus den falschen Gründen, und von Leuten gefördert, die einst die neue Schreibung begrüßten (z.B. Spiegel).

  6. P.S.: vertippt! Der Smiley

    P.S.: vertippt! Der Smiley bei “brillant” ist ne einfache runde Klammer, verflixt. Ach, und der link. Na, beim nächsten Mal wirds besser.

  7. So jetzt sollte es

    So jetzt sollte es verständlicher sein, wenn man einen Kommentar einfügen will.

    Das mit dem brillant ist schon witzig. Es kam eigentlich aus dem Französischen in die deutsche Sprache, scheint jetzt aber immer mehr den Umweg über das Englische zu machen – schreibtechnisch gesehen, gesprochen wird nach wie vor mit französischem Akzent. 🙄

  8. Dicki: Nein, es gab schon

    Dicki: Nein, es gab schon immer ein Nebeneinander von alten und neuen Schreibweisen. Bereits als Jugendlicher wurde ich mit Büchern in Fraktur konfrontiert, die auch noch die Schreibung von vor 1901 hatten. Im Studium dann ohnehin.
    Es wird immer und immer so etwas geben, weil Sprache lebendig ist.
    Wenn ich dann erlebe, dass Grundschullehrerinnen, die Schrifterwerb vor und nach der Reform unterrichtet haben, erzählen, wie viel einfacher es den Kindern nun falle – dann ist diese neue Diskussion genau das, was ich schon damals vermutet hatte, als sie erstmals aufkam: Das grotestke Aufbäumen von Leberwürsten. Die Argumente kann ich nicht erkennen (und Dicki: Wetten, dass du brillant auch schon früher so geschrieben hast? Denn mit i wäre es erst jetzt überhaupt denkbar).

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